Blicke – aus „Jeder Tag Gedankentanz“

03.06.15 13:53 Uhr
Das Material anschauen … Wie soll ich das erklären? Hm. Also es gibt unter Pferdemenschen, oder vielleicht unter vielen Menschen, beschränkt sich dann eben nicht nur auf Pferde, eine Sitte, die sich darauf versteht, das Material des Pferdes zu begutachten. Soweit ich weiß, bezieht sich das hauptsächlich auf das Gebäude, das Äußere des Pferdes, die Abstammung und vielleicht was in ihm zu stecken scheint. Was es verspricht. Was man sich von ihm erwarten kann. Was man zu erwarten hat, wenn man es eben zu einem Zeitpunkt X beurteilt. Welche Leistung man erwarten kann.
Ich habe Schwierigkeiten mit dieser Sicht der Dinge. Ich habe Schwierigkeiten mit dem Beurteilen des Materials.
Wie ich die Dinge sehe? Hm …

… Ich bin übrigens bei Hengst und Wallachen im Paddock. Während ich schreibe steht mein Feuerwallach vor mir mit gesenktem Kopf. Er hält mir den Raum frei. Er scheucht alle anderen weg, macht Platz für mich.

Ich sehe ein Wesen. Ein Wesen, das eine bestimmte Form angenommen hat. Ein Wesen mit einer Geschichte, die es bereits erlebt hat und die es noch erleben wird. All das formt und prägt dieses Wesen, beeinflusst es in seinem Handeln. Ich sehe den Kern des Wesens. Der ist nichts als Kern. Nichts als Ursprung, als Essenz. Der Kern, in dem wir, alle Wesen, gleich sind.
Ich sehe das Wesen, das sich als Pferd geformt hat. Ich blicke es an, mit sanften Augen. Es blickt zurück. Nicht nur aus den Augen. Vielmehr noch als Ganzes. Es blickt aus der Seele, aus jeder Faser seines Körpers. Und in seinem Blick kann ich meinen ebenso zurück werfen. Mein Blick spiegelt sich in seinem, wird ebenfalls zu einem Blick aus der Seele.

Ich kann es fühlen. Von innen und von außen kann ich es fühlen. Nicht nur mit den Händen oder mit meiner Haut. Mit meinem Herzen. Und es fühlt auch mich. Mit seinem Herzen, mit seiner Seele. Als Ganzes. Die Geschichten, die ich sah, enden hier. Ich sehe nur noch das Wesen, als Pferd geformt, und spüre wie es mich berührt. Tief in meiner Seele. Und wie ich es berühre. Aus tiefster Seele.
Ich erlebe es ganz. Ich spüre die Erfahrung vollständig. Ich fühle das Wesen. Bin ich ganz wach und durchlässig, so bekomme ich ein Gefühl geschenkt, als könnte ich durch das Wesen des Pferdes und meiner selbst das Wesen der Welt spüren. Ein Gefühl der Ganzheit. Der Vollkommenheit. Von diesem Moment an brauche ich nichts mehr.
Es nicht wichtig, was das Pferd kann oder leisten wird. Es ist nicht wichtig, wie gesund oder krank es ist. Es ist nicht wichtig, welche Geschichte es trägt.
Dieser Moment der Ganzheit vermittelt mir ein Gefühl der Ordnung. Dass alles, was ist seinen Platz hat. Nichts muss geleistet werden, nichts muss geheilt werden. Alles ist richtig und gut.

Ich kann nicht das Material anschauen.

Ich schaffe es nicht. Ich möchte es nicht. Es ist nicht, wie ich die Welt sehen möchte. Ich möchte ihren Kern sehen. Ich möchte ihr Wesen spüren. Ich möchte ganz sein mit ihr. Und allen Wesen. Das möchte ich fühlen. Das darf ich fühlen.
Ich erlaube es mir. Ich erlaube mir zu sehen, was ich sehen möchte. Denn ich als Wesen, geformt als Mensch an diesem  Ort, darf das.

Du darfst das auch – übrigens.

Danke, Feuerwallach. – Gern geschehen.

 

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